Wie es zu dieser Ausstellung kam?

Mein Mann und ich verbrachten ein Wochenende in Hamburg. Wie jeden Sonntag wollte ich den Gottesdienst besuchen. Und im Gegensatz zu anderen Hamburg-Aufenthalten wollte ich diesmal nicht in den Michel, sondern die Gemeinde vor Ort, die evangelische Gemeinde in Rothenburgsort, kennenlernen. Also machte ich mich auf den Weg zur St. Thomas Kirche.

Am Eingang lag der Gemeindebrief aus, den ich mit in den Gottesdienst nahm.

Da ich nicht gerade ein begnadeter Sänger bin, blätterte ich während des ersten Liedes im Gemeindebrief und wurde auf das „Grußwort von Pastorin Blum bei der Gedenkfeier der Vereinigung Kinder vom Bullhusener Damm e.V. am 20. April 2014 um 18 Uhr in der Turnhalle der ehemaligen Schule am Bullhusener Damm 92-94“ aufmerksam.

Ich verstand nur Bahnhof und tat wieder etwas, das man während des Gottesdienstes eigentlich nicht tun sollte. Ich befragte Google.

Das, was ich dann in einem Wikipedia-Eintrag las, verschlug mir die Sprache. Unter „Das Verbrechen“ war folgendes zu lesen:

„Josef Mengele, berüchtigter Lagerarzt im KZ Auschwitz, hatte aus Berlin die Weisung erhalten, zwanzig jüdische Kinder für pseudomedizinische Experimente ins KZ Neuengamme zu schicken. Dort sollten sie dem SS-Arzt Kurt Heißmeyer für Menschenversuche zur Entwicklung von Impfstoffen gegen Tuberkulose zur Verfügung gestellt werden.

Am 27. November 1944 wurden die Kinder aus dem Konzentrationslager Auschwitz zum Bahnhof gebracht, begleitet von drei polnischen Krankenschwestern und einer Ärztin. Nach der zwei Tage später erfolgten Ankunft im KZ Neuengamme kümmerten sich zwei holländische Häftlingspfleger, Dirk Deutekom und Anton Hölzel, und die französischen Professoren Ren Quenouille und Gabriel Florence um die Kinder. Die drei polnischen Krankenschwestern, die die Kinder begleitet hatten, wurden fünf Tage nach ihrer Ankunft von dem Rapportführer Wilhelm Dreimann im Bunker des KZ Neuengamme erhängt. Die belgische Ärztin Paulina Trocki wurde ins Neuengammer Außenlager Beendorf überstellt.

Heißmeyer, der im Sanatorium Hohenlychen tätig war, hatte bereits seit Juni 1944 zusammen mit dem Pathologen Hans Klein im KZ Neuengamme Menschenversuche an sowjetischen Kriegsgefangenen vorgenommen. Es kam zu keiner Bildung von Antikörpern. Dies war bereits bekannt, da über erfolglose Versuche bereits Veröffentlichungen existierten, die Heißmeyer entweder nicht gelesen oder ignoriert hatte. Schon im Oktober 1944 musste er das Scheitern seiner Experimente an den sowjetischen Kriegsgefangenen erkennen; trotzdem forderte er die zwanzig Kinder für seine Versuche an, die Mitte Januar 1945 begannen. Der Gefangene Herbert Kirst musste den zehn Jungen und zehn Mädchen – neben vierzehn Polinnen und Polen ein niederländisches Brüderpaar, zwei Franzosen, ein Jugoslawe und ein Italiener – in die Brust schneiden und die Bakterienlösung in die Wunde einreiben. Nach zwei Tagen brach bei den Kindern hohes Fieber aus. Die durch die Verletzungen und den Einfluss der Bakterien körperlich stark geschwächten Kinder wurden einer zweiten sehr schmerzhaften Versuchsreihe unterzogen, dabei schob Heißmeyer einen Gummischlauch durch die Luftröhre in die Lungenflügel, um eine Lösung mit Tuberkulosebakterien direkt in die Lungen mit einem Becher einzugießen. Dabei kam es häufig zu Verletzungen und Blutungen der Lungen der Kinder. Zur Vervollständigung der Versuche musste der tschechische Häftlingsarzt Bogumil Doclik den Kindern die Lymphdrüsen herausoperieren. Die Kinder bekamen lediglich eine örtliche Betäubung mit Novocain und nach zwei Wochen wurden ihnen die Lymphdrüsen auf der anderen Körperseite herausoperiert. Hans Klein stellte erneut fest, dass sich auch bei diesen Versuchen keine Antikörper gebildet hatten.

Als britische Truppen bereits das Hamburger Stadtgebiet erreicht hatten, kam der Befehl aus Berlin, die Kinder zu beseitigen, um die Spuren dieser Untat zu verwischen. Dazu wurden die Kinder mitsamt ihren Pflegern am späten Abend des 20. April 1945 in die Keller der leerstehenden Schule Bullenhuser Damm verbracht. Der SS-Arzt Alfred Trzebinski gab den Kindern eine Morphinspritze, woraufhin der SS-Unterscharführer Johann Frahm ihnen Stricke um den Hals legte und sie an zwei Haken im Heizungskeller der Schule erhängte. In derselben Nacht wurden dort noch 28 Erwachsene, die Pfleger und sowjetische Kriegsgefangene, ermordet.“

[Günther Schwarberg: „ Inferno und Befreiung – Zwanzig Kinder erhängen dauert lange“, in: Die Zeit vom 6. April 2005 – Nr. 15]

„Frahm nahm den 12-jährigen Jungen auf den Arm und sagte zu den anderen: Er wird jetzt ins Bett gebracht. Er ging mit ihm in einen Raum, der vielleicht sechs bis acht Meter von dem Aufenthaltsraum entfernt war, und dort sah ich schon eine Schlinge an einem Haken. In diese Schlinge hängte Frahm den schlafenden Jungen ein und hängte sich mit seinem ganzen Körpergewicht an den Körper des Jungen, damit die Schlinge sich zuzog. Ich habe in meiner KZ-Zeit schon viel menschliches Leid gesehen und war auch gewissermaßen abgestumpft, aber Kinder erhängt habe ich noch nie gesehen.“

[Aussage von Alfred Trzebinskis, zitiert nach: Günther Schwarberg: „Zwanzig Kinder erhängen dauert lange“, in: Die Zeit, 6. April 2005 – Nr. 15]

„Was mit den Leichnamen der Mordopfer geschah, konnte nicht abschließend aufgeklärt werden: Wahrscheinlich wurden die Leichen nach Neuengamme zurückgebracht und dort verbrannt.“

[Dierk Strothmann: „Die Kinder vom Bullenhuser Damm“, in: Hamburger Abendblatt – 20. April 2005]

Die Namen der ermordeten 20 jüdischen Kinder
•    Altmann, Mania, fünf Jahre alt, Polin
•    Birnbaum, Lelka, zwölf Jahre alt, Polin
•    De Simone, Sergio, zehn Jahre alt, Italiener
•    Goldinger, Surcis, zehn Jahre alt, Italiener
•    Herszberg, Riwka, sieben Jahre alt, Polin
•    Hornemann, Alexander, acht Jahre alt, Niederländer
•    Hornemann, Eduard, zwölf Jahre alt, Niederländer
•    James, Marek, sechs Jahre alt, Pole
•    Junglieb, W., sechs Jahre alt, Jugoslawe
•    Klygermann, Lea, acht Jahre alt, Polin
•    Kohn, Georges André, zwölf Jahre alt, Franzose
•    Mekler, Bluma, elf Jahre alt, Polin
•    Morgenstern, Jacqueline, zwölf Jahre alt, Französin
•    Reichenbaum, Eduard, zehn Jahre alt, Pole
•    Steinbaum, Marek, zehn Jahre alt, Pole
•    Wassermann, H., acht Jahre alt, Polin
•    Witonska, Eleonora, fünf Jahre alt, Polin
•    Witonska, Roman, sieben Jahre alt, Pole
•    Zeller, Roman, zwölf Jahre alt, Pole
•    Zylberberg, Ruchla, neun Jahre alt, Polin

[Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm e.V.]

Nachdem ich das gelesen hatte, war ich mir nicht mehr sicher, ob ich noch die Kraft hätte, dem Gottesdienst zu folgen, geschweige denn, die wenigen Meter zum Altar hinter mich zu bringen, um am Abendmahl teilzunehmen.

Erst vor kurzem habe ich die Hauptarbeiten zu meiner Fotoausstellung „Auf Draht. Der Drahtmann unterwegs in…“ abgeschlossen.

In diesem Zusammenhang hatte ich auch mit den kleinen Bronzefiguren von Heinrich Janke „Die Betende“ und „Der Gebeugte“ experimentiert.

Spontan kam mir die Idee, mit „Der Betenden“ und „Dem Gebeugten“ vor Konzentrationslagern, Gedenkstätten und Nazi-Unorten Aufnahmen zu machen.

„Die Betende“ und „Der Gebeugte“ sind kleine, schlichte Figuren. Angesichts der gigantischen Bauten und Anlagen wirken die beiden demütig, manchmal sind sie auch kaum erkennbar.

Mal alleine, mal zu zweit, mal einander  zu-, mal einander abgewandt. So begegnen die beiden Figuren „Die Betende“ und „Der Gebeugte“ den Unorten und deren Geschichte sowie den Geschichten der Menschen, die hier meistens ihr Ende fanden.

Wie ich mich als Fotograf den Unorten näherte?

An allen Unorten bestand die Herausforderung darin, sich schnell für Motive und Positionierungen der beiden Bronzefiguren zu entscheiden. Überall waren Besucher, die still und lautlos die Unorte über sich ergehen ließen.

Die Wahrung der Intimität der Unorte gebot es, keine Besucherinnen und Besucher auf den Fotografien mit abzubilden oder sie in ihrer Andacht, Trauer und Betroffenheit zu stören.

Für mich stand die technische Perfektion der Aufnahmen eindeutig nicht im Vordergrund. Daher wurden die Bilder im Nachhinein auch nicht digital nachbearbeitet. So spiegeln sie am besten die Atmosphäre und Wirklichkeit der Unorte wieder.